„Die normalen Leute gibt es nicht mehr“

Sehr interessant ist ein Interview, das der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Eric Gujer, mit dem Soziologen und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz, Professor an der Universität in Frankfurt an der Oder, geführt hat. Er spricht dort über den „Paradigmenwechsel“ in den westlichen Gesellschaften und über die „breite Auffächerung der gesellschaftlichen Gruppen“.

Aber er betont auch die Gefahren, die damit verbunden sind und „teilweise in populistische Revolten münden“. Es gebe kein Zentrum der Gesellschaft mehr, nur noch „verschiedene Lebensstile, die in Konkurrenz zueinander stehen“ würden. Wut und Aggressivität würden sich ausbreiten. Viele hätten den Eindruck, sie gehörten zu den Verlierern.

Dabei gehe es aber nicht nur um die ungleiche Aufteilung von Einkommen und Vermögen. Es handle sich sowohl um ökonomische, als auch um kulturelle Faktoren. So habe z.B. die ländliche Bevölkerung ein ganz anderes Verhältnis zu Benzinpreiserhöhungen oder zum Auto, auf das sie angewiesen sei, als die intellektuelle Bevölkerung und Grünen-Wählerschaft der Metropolen, die mit der U-Bahn fahren kann und sich (überspitzt formuliert) Klimaschutzdiskussionen leisten kann. Aber auch „die normalen Leute“, wie wir sie früher kannten und die früher den weitaus größten Teil der Bevölkerung ausgemacht hätten, gäbe es heute nicht mehr.

Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang ein Aspekt, den er betont: der Trend in teure Boom-Städte auf der einen Seite und die Entvölkerung der ländlichen, kleinstädtischen Regionen auf der anderen. Tatsächlich leben wir ja – gerade in Freiburg – in einer solchen „Boom-Stadt“ auf Kosten anderer, ländlicher, östlicher Regionen. Wir fördern den Zuzug von dort sogar noch mit neuen Stadtteilen, statt die Regionen dort zu fördern. So warnt Reckwitz (ab der 22. Minute des insgesamt 49 Minuten langen Interviews):

Ein wesentlicher Faktor der empfunden Krisenstimmung in der Mittelschicht sei „der Run in die Metropolen, das ökonomische Boomen der Metropolregionen, die attraktiv erscheinen. Das bedeutet aber, dass die ländlichen Regionen, in denen ja viele Menschen der traditionellen Mittelklasse leben, sich teilweise entvölkern und ökonomisch schwächer werden. Das ist natürlich eine Form der Entwertung und Deklassierung, die stattfindet. Das ist auch ein wichtiger Teil dieser Krisenstimmung, auch der Wut und Aggressivität, die stattfindet.“

Sieh hier das Interview der NZZ: https://www.nzz.ch/video/nzz-standpunkte/die-krise-des-liberalismus-und-die-neuerfindung-der-freiheit-ld.1543768?mktcid=smch&mktcval=fbpost_2020-03-09&fbclid=IwAR1eo8X_-Nn55BLrhT3rLPS1dTy1FcCCmWe6arh3xQ-4PrQ2gD5VVBTTil4

Andreas Reckwitz ist auch Autor des derzeit auf den Bestsellerlisten stehenden Buches „Das Ende der Illusionen“. Darin spricht er auch vom Ende der Links-Rechts-Differenzen in der heutigen Zeit. Heute, in der „post-industriellen“ Gesellschaft, seien viel mehr Faktoren am Werk, als dies in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts noch der Fall gewesen sei.